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Gespräche



 01.11.2015 - Tanja Kinkel - Schritstellerin 



Dr. Tanja Kinkel in der Stadtbibliothek Schwabing

Mit Tanja Kinkels
historischen Romanen reisen wir ins Mittelalter, zu den Augsburgern, oder sind zu Gast bei einer Kriegergöttin in der Mongolei. Heute überrascht uns Tanja Kinkel mit einem Gegenwartsbuch „Schlaf der Vernunft“(Droemer Verlag). Der Titel wirft Fragen auf, ist es ein Ratgeber? Worum geht es in diesem Buch?
Es ist ein Roman über eine Begegnung einer Tochter mit ihrer Mutter, die nach 20 Jahren Haft aus dem Gefängnis kommt. Es ist nichts außergewöhnliches, dass nach einer so langen Haft eine Begegnung nicht reibungslos verläuft.
Hier geht es um die 70er Jahre, als die so genannte Baader-Meinhof-Gruppe, später bekannt als RAF (Rote Armee Fraktion), den Staat zum Feind erklärte. Die Kinder von Terroristen-Eltern, die traumatisiert zurück blieben, stehen nun ihren Eltern befremdet gegenüber.
Das Buch „Schlaf der Vernunft“ von Tanja Kinkel ist eine Konfrontation mit dem Deutschen Herbst und einer Generation, die den damaligen westdeutschen Staat herausforderte.

Frau Kinkel,
„Schlaf der Vernunft“. Warum haben Sie gerade diesen Titel für ein Buch gewählt, wo es doch um eine Zeit geht, in der damaligen Bundesrepublik Deutschland, als die RAF den Staat zum Feind erklärte und Menschen ermordete. Inwiefern hat die Vernunft geschlafen?

Der Titel bezieht sich auf die Radierung von Goya, und vollständig heißt der Titel „Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Es geht ja nicht nur um den deutschen Herbst 1977, sondern auch das Jahrzehnt vorher. Eine der Fragen, die sich für die Tochter Angelika und hoffentlich auch für die Leser stellt, wie konnte es sein, dass sich jemand wie Martina, ihre Mutter, von der idealistischen jungen Studentin zur Mörderin entwickelt hat. Ohne etwas entschuldigen zu wollen, denn letztendlich ist Martina für ihre Entscheidung selbst verantwortlich. Die meisten der frühen RAF Unterstützer kamen aus der Studentenszene, aus einem Teil der 68er Jugendrevolte. Diese hat sich wiederum als Gegenreaktion auf mehre Dingen entwickelt, unter anderem aber natürlich auf die Nicht-Aufarbeitung einer nationalsozialistischen Vergangenheit durch die Eltern-Generation.

Es ist eine heikle Angelegenheit, über eine politische Organisation zu schreiben, die das „kollektive Schweigen“ sich zur Pflicht gemacht hat. Sind Sie da an Grenzen gestoßen?
Es ist in der Tat so, dass ich an Grenzen gestoßen bin. Zum Glück hatte ich gute Quellen, unter anderem meinen Namensvetter Klaus Kinkel, der über Jahrzehnte sehr eng mit dem RAF Material befasst war, und der auch damals in Gefängnisse gegangen ist, um mit den dort Inhaftierten zu verhandeln. Ich hatte Einsicht in die Gesprächsprotokolle, auch in die mit Brigitte Mohnhaupt, was mir Einblick in Personen und Denkweisen gab. Man sollte nicht übersehen, dass ich über Menschen schreibe, die erfunden sind. Verschiedene Teile der Figuren-Biographien sind echten Biographien entlehnt, es ist aber nichts im „Eins zu Eins“ Verhältnis aufgebaut. Es sind Mosaiken. Ich lasse die RAF Mitglieder in Nebenrollen auftreten, lasse sie nur das tun oder sagen, was auch dokumentiert ist. Natürlich ist da eine wichtige Frage, die der Reuefähigkeit. Ich glaube, in einer veröffentlichten Form werden wir nie Reuebekenntnisse bekommen.

Klar, dies ist ein Roman – keine Dokumentation, auch kein Sachbuch über die RAF. Sie haben sich dem Thema intensiv zugewandt. War es schwer, bis zum Schluss durchzuhalten?
Gelegentlich schon. Gerade wenn man sich durch die Zeit durchliest, und sich mit dem Pamphleten beschäftigt, waren einige dabei, wo man sich denkt: wie habt ihr so selbstgerecht sein können, so unsensibel Vergleiche mit KZ- Insassen aufstellen können. Für euch die einzige moralische Instanz in Anspruch nehmen können:
die Enthumanisierung von allen Opfern.
Diese Haltung ist ungeheuerlich. Für Außenstehende ist es immer leicht, aus der Retroperspektitive zu sagen, dass eine Entscheidung seitens der Politik richtig war oder falsch, wenn man nicht selbst ein Angehöriger eines Opfers ist.
Heute, wo wir Terrorismus mit andern ideologischem Hintergrund, aber mit ähnlichem psychologischem Mechanismen wieder als Problem haben, lohnt es sich zurück zu schauen, und es lohnt sich auch, sich vor Augen zu halten, dass Narben und Wunden, die damals geschlagen wurden, langfristige Auswirkungen für alle Beteiligten haben.
Was die Berührung ideologischer Extreme betrifft:
Ich habe mich mit der Journalistin Annette Ramelsberger unterhalten, die für die „Süddeutsche“ die NSU-Prozesse protokolliert, und sie erinnerte mich daran, daß Horst Mahler, einer der Mitbegründer der RAF, der heute bei der NPD ist, von sich sagt, ER habe sich nie verändert. Und wenn man sich das Interview durchliest, welches das Magazin der SZ im letzten Jahr von einem jungen, in Deutschland aufgewachsenen IS-Kämpfer gemacht hat, dann gewinnt man den Eindruck, der junge Mann wisse vom Koran in etwa so viel, wie Andreas Baader von Karl Marx. Es ist die romantisierte Gewalttätigkeit, die plötzliche Machtposition über andere, das Gefühl, griffige ideologische Antworten zu haben, mit denen man alle komplexen Fragen abwehren kann, die da offenbar den Reiz ausmacht.


Es ist sehr einfühlend von Ihnen, dass Sie in diesem Buch den unbeteiligten Opfern, die nicht zur Prominenz gehören, eine Sprache geben.


Wann haben Sie zum ersten Mal das Wort RAF gehört, wie klang das für Sie?

Sehr früh schon. Freunde meiner Eltern wohnten nicht weit weg von uns, die plötzlich nicht mehr spontan zu uns in den Garten kommen konnten. Der Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer wurde von der RAF entführt. Personen des öffentlichen Lebens wurden vermehrt zu schutzbedürftigen Personen erklärt, bei denen jeder Schritt durch Personenschützer kontrolliert bzw. geschützt wurde.

Haben Sie mit Angehörigen aus der Zeit gesprochen?
Natürlich, angefangen mit den erwähnten Familienfreunden, den de Withs, über eine Menge Alt-68er, die ich durch den PEN kenne, über Mitglieder von linksradikalen Aktionsgruppen wie Freizeit 81, bis hin zum früheren Außenminister Klaus Kinkel, der durch die Kinkel-Initiative ein friedliches Ende und die Selbstauflösung der RAF ermöglichte.

Frau Kinkel, Ihre Kindheit war in den 70er Jahren. Gingen Sie in einen antiautoritären Kinderladen?
Nein, ich war in Bamberg in einem von Nonnen geleiteten Kindergarten, das war zwar der Gegenpol zu den Kindergärten von „Angelika“ aus dem Buch, doch war er weder doktrinär noch lebensfremd. Die Nonnen haben damals übrigens kein Habit getragen, das waren sehr vom Zeitgeist der 70er geprägte Nonnen in Zivilkleidung. Die Lieder, die wir damals gesungen haben, stecken mir teilweise immer noch im Kopf.

Sie kennen durch Akten und Erzählungen der Betroffenen, durch Ihre Recherchen die damalige Wirklichkeit. Macht das Ihnen diese Zeit sympathisch?
Zunächst möchte ich sagen, dass ich nur Aspekte der damaligen Zeit kenne. Ich glaube nicht, dass man je sagen kann, man habe die einzige alleinige Wahrheit gepachtet. Bei diesem Themenkomplex nicht, so wie bei allen anderen nicht. Diese Zeit war zweifellos eine wichtige Epoche in der deutschen Nachkriegsgeschichte und hat viele Weichen gestellt. Ironischer Weise hat die RAF selbst keine politischen Konsequenzen erreicht, weil sie völlig verpasst hat, eine zivilpolitische Bewegung ins Leben zu rufen.

Gibt es etwas, was Sie beim Recherchieren dieser Zeit stutzig gemacht hat?

Ich fand es interessant, als es zum Gewaltverzicht und zur Selbstauflösung kam, dass das nicht von Brigitte Mohnhaupt ausging, sondern von der breiteren Öffentlichkeit eher unbekannten RAF-Größen. Das heißt, dass da ein Machtkampf im Gefängnis stattgefunden hat, und sich Pohl durchgesetzt hat. Das hat mich verblüfft.
Die andere Sache ist die mit der Geschichte um Holger Meins im Hungerstreik. Als sein Zustand sehr, sehr kritisch war, gab es keinen behandelnden Gefängnis-Arzt, denn der ist ins freie Wochenende gegangen, und der Direktor hat ebenfalls ein Wochenende frei genommen. Als der Direktor endlich erreicht und über den Zustand von Holger Meins informiert wurde, weigerte er sich lange, einen Fremdarzt zu Holger Meins hin zu zuziehen. Das hätte ich für Propaganda gehalten, wenn es nicht eine historische dokumentierte Tatsache gewesen wäre.

Vom historischen Weg -RAF-Untergrund zur Realität –Haftentlassung, sind in diesem Buch über 20 Jahre vergangen. Steffen Seidel, ein Protagonist aus dem Buch, ist einer der Personenschützer des ermordeten Staatssekretärs, und hat als einziger den Anschlag überlebt. Er wird jetzt mit einer Fall-Analytikerin konfrontiert. Welchen Anlass gab es dazu?
Bei Steffen ist es so, dass er einen Teil seines Gedächtnisses verloren hat. Er lag nach dem Attentat im Koma, und nach dem Erwachen meldeten sich bei ihm viele Selbstzweifel und Schuldgefühle, weil er überlebt hatte. Die Gedächtnislücken ließen ihn oft verzweifeln. Sein Lebensgefährte wollte Steffen helfen und glaubte, dass eine objektive Beobachtung, in diesem Fall eine Fall-Analytikerin, seinem Freund helfen und ihn beruhigen kann.

Erinnern Sie sich persönlich an die Zeit, als überall Fahndungsplakate hingen? In der Post, Tankstellen, sogar im Wartezimmer von Arztpraxen.
Absolut. Ich habe daran noch lebendige Erinnerungen.

Woher kommt das Zitat: Zweifel sind für Menschen in Freiheit, nicht für Gefangne?

Das sagt Martina an einer Stelle, als ihre Tochter Angelika sie fragt, dass sie, ihre Mutter, sich doch nichts vergeben würde, wenn sie sagt, dass sie Zweifel an dem hat, was sie getan hat.

In Ihrem Buch „Schlaf der Vernunft“ bauen Sie eine unglaubliche Spannung beim Verhalten des Sohnes Michael des ermordeten Staatssekretärs Werder auf. Zufall?
Nein, kein Zufall, denn Steffen Seidel will herausfinden, was beim Attentat wirklich passiert ist.

Die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter bei einem Dünenspaziergang ist sehr emotional. Fragen der Zukunft und des Sterbens beschäftigen die beiden. Wollten Sie damit der Mutter etwas Menschliches geben?

Ja, natürlich. Es war mir wichtig, dass Martina, auch wenn sie immer wieder ideologische Phrasen von sich gibt, die sehr Menschen verachtend sind, dennoch dreidimensional bleibt. Die Beziehung zu ihrer Tochter ist ihr sehr wichtig. Letztendlich ist die Tochter über jede Ideologie hinweg ein emotionaler Kern für Martina.

Die Tochter Angelika hört Wasser rauschen aus der Dusche und versinkt in einen Monolog über Freiheit und Selbstmord. Haben Sie auch über andere Reaktionen der Mutter nachgedacht?

In Angelika kommt eine Urangst hoch, denn sie wurde schon einmal von ihrer Mutter verlassen. Bei Gefangenen, auch bei Nicht-Terroristen, die nach Jahren Haft dann in Freiheit kommen und sich in eine neue Welt hinein finden sollen, ist eine Suizidgefahr nicht ausgeschlossen.

Sollte man den Text von Pastor Martin Niemöller auch heute noch in die Öffentlichkeit tragen?
Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten,
gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Das sind sehr wichtige Zeilen, die ihre Aktualität nie verloren haben. Was ich für wichtig halte ist, dass sich Menschen weiter mit Personen wie Pastor Niemöller oder Martin Luther King beschäftigen. Es ist für uns Menschen Jahrzehnte danach immer leicht zu sagen: klar, Recht gehabt, oder ... Es ist aber viel schwerer zu sagen, wie würde ich empfinden und handeln, wenn ich hier und heute herausgefordert werde.

In der Mitte des Buches findet ein langer Dialog statt zwischen dem Staatssekretär und seinen Beschützern auf dem Weg zum Gefängnis Köln-Ossendorf, in dem Ulrike Meinhof saß. Haben Sie auch vor Ort, also im Gefängnis Köln Ossendorf recherchiert?

Dort war ich nicht, ich habe andere Gefängnisse besucht. In Köln-Ossendorf sieht es nicht mehr so aus, wie zu Ulrike Meinhofs Zeiten. Die berüchtigte Schallisolation in dem Trakt, der damals eigentlich für die psychiatrischen Fälle vorgesehen war, ist heute zu Glück so nicht mehr vorhanden.

Heilt die Zeit Wunden?
Die Frage stammt aus dem Buch „Albrecht/Ponto: Patentöchter. Im Schatten der RAF“ Möchten Sie dazu einen Satz sagen
?
Ich kann natürlich nicht für die Menschen sprechen, die die Zeit tatsächlich durchlitten haben und auch nicht für die Opfer, oder für Familien der Opfer und der Täter. Ich habe einen Roman geschrieben, wo ich nur für die erfundenen Figuren sprechen kann.
Aus eigener Erfahrung weiss ich, was Trauer ist. Trauer ist etwas, für das es keinen Gradmesser gibt. Wunden werden niemals verschwinden.

Frau Kinkel, wie geht es Ihnen jetzt nach der Fertigstellung Ihres Buches „Schlaf der Vernunft“?
Natürlich bin ich sehr gespannt, wie das Buch sich den Lesern vermitteln wird. Vor Erscheinen meiner Bücher bin ich immer in einem Zustand gleichzeitig von Erwartung und Nervosität. Als ob man auf glühenden Kohlen sitzt. Es gab aber für mich in diesem Jahr noch zwei wichtige Ereignisse. Für mein akademisches Leben waren die „Lion Feuchtwanger“ Konferenzen, eine in der Villa Aurora, in Pacific Palisades und die andere hier in München. Dann erreichte mich die Nachricht, dass mein Buch „Die Puppenspieler“ nun verfilmt wird und als Zweiteiler nächstes Jahr im Fernsehen zu sehen ist. Das ist sehr aufregend.

Das Buch „Schlaf der Vernunft“ ist spannender als jeder Krimi, ist doch aber diese Zeit mit all ihren Schrecknissen dagewesen. Sehr beeindruckend ist, wie Sie Fragen stellen und Gespräche zwischen Mutter und Tochter analysieren.
Ich wünsche diesem Buch viele, viele Leser, auch ganz viele junge Leser, die Ideologien hinterfragen, aber auch das Funktionieren unserer Gesellschaft kritisch prüfen. Gesellschaft und Demokratie zu hinterfragen hat jeder ein Recht, auch gegen Missstände etwas zu unternehmen. Gewalt und Morden, sich über Menschenleben zu stellen, gehören nicht dazu. Wir danken für das Gespräch.


©Steffi.M.Black 2015 (Text u.Bild)