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Gespräche



 15.10.2021 - Das Gespräch mit Ingrid Scherf 



Autorin u. Übersetzerin

Ingrid Scherf lebt in München, arbeitete als Buchhändlerin in der Basis Buchhandlung und als Kuratorin u.a. für eine Ausstellung über Kurt Eisner. Sie ist freie Autorin und Sachbuch-Übersetzerin. Für den Verlag Assoziation A hat sie Bücher des international renommierten Stadtsoziologen Mike Davis übersetzt. Jetzt erschien von ihr auch im Verlag Assoziation A, übersetzt aus dem Französischen, das Buch von Suzanne Maudet „Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen“.


Ingrid, vor uns liegt das Buch von Suzanne Maudet „Dem Tod davongelaufen, wie neun junge Frauen dem KZ entkamen“. Das Buch gab es bisher nur in französisier Sprache und nun ist es auch auf Deutsch zu lesen. Ich dachte immer, dass das Prozedere einer Übersetzung vom Verlag ausgeht, und der Verlag Übersetzer sucht, doch bei diesem Buch „Dem Tod davongelaufen“ war das ganz anders. Du hast dieses Buch in Eigenregie übersetzt und für einen Verlag gesorgt. Wie ist das entstanden?
Die Entstehungsgeschichte dieses kleinen Büchleins ist sicher ungewöhnlich. Vor circa 10 Jahren legte mir ein Freund dies auf den Tisch. Hintergrund ist der, dass wir lange Jahre in Mittenwald mit Antifaschist*innen aus München, der Initiative "Angreifbare Traditionspflege" und dem Verein der verfolgten des Naziregimes (VVN) gegen die alljährliche Traditionsfeier der deutschen Gebirgsjäger protestiert hatten, um sie mit ihrer blutigen Vergangenheit zu konfrontieren. Wir haben dort gegen dieses Heldengedenken einer Truppe aus dem zweiten Weltkrieg, auf deren Konto immense Kriegsverbrechen gehen, demonstriert, Zeitzeug*innen eingeladen, Sand ins Getriebe gestreut.

Wie ging es weiter?

Da lag nun das Buch, immer in Reichweite, doch ich war zu beschäftigt, um es zu lesen. Unsere Basis Buchhandlung machte zu und musste abgewickelt werden, und gleichzeitig gab es Vorbereitungen für eine Ausstellung im Stadtmuseum „Wem gehört die Stadt - Neue soziale Bewegungen im München der 1970er Jahre“. Als ich dann endlich das Buch gelesen hatte, war ich so berührt, dass ich mich entschloss, es ins Deutsche zu übertragen, zunächst für mich, um zu sehen, ob die Geschichte mich weiter in Bann schlägt. Das Buch hat einen ganz eigenen Tonfall: es sind neun junge Frauen, die versuchen ihr Leben in diesen acht Tagen ihrer Flucht aus einem Todesmarsch zurückzuholen. Frauen, alle unter Dreißig, die fest daran glauben, dass sie ihre Erinnerungen, ihre Jugend zurückerobern werden. Sie waren in das KZ Ravensbrück deportiert worden, dann in das KZ Außenlager von Leipzig-Schönefeld, wo sie in der Rüstungsfabrik HASAG Zwangsarbeit leisten mussten. Diese Frauen haben zusammengehalten. Dieser jugendliche Optimismus, aber auch die Klarheit, dass der Marsch, den sicheren Tod bedeuten würde, lässt für sie nur eine Möglichkeit: die Flucht. Und sie gelingt. Ihren Zeitzeuginnenbericht hat Suzanne Maudet gleich nach der Heimkehr1945 aufgeschrieben. Im Präsens. Aber wie in vielen Fällen wollte man diese Zeugnisse nach dem Krieg nicht hören, auch nicht auf der Seite der Sieger.

Ja, das bekommt man immer wieder mit. Ein Glück, dass der Text nicht verloren ging.
Mir war klar, dass Zeitzeug*innen-Literatur, wo niemand mehr lebt, trotz allem wichtig ist, auch wenn sie nur schwer Verlage findet. Ich sagte mir, wenn ich das Manuskript fertigstelle, könnte es bereits beim Lesen der ersten Seiten überzeugen. Der Ton musste unbedingt stimmen. Ich dachte mir, ich werde einen Weg finde. Aber zuvor musste ich den Text erstmal übersetzen.

Als Du mit der Übersetzung fertig warst, wer hat es zuerst gelesen?

Ich habe nochmal recherchiert und redigiert, habe es noch mal gelesen und war berührt, wie sehr der Bericht auch in der deutschen Übersetzung unter die Haut geht. Ich schrieb den Verlag Assoziation an, den ich durch meine Übersetzung der Bücher von Mike Davis kannte. Theo Bruns und sein Kollege Rainer Wendling lasen meinen Text, er hat sie überzeugt und sie sagten: o.k. das machen wir. Da war ich natürlich sehr glücklich und jetzt ist das Buch da.

Das kleine, gebundene Buch, sehr schön gemacht, hat 125 Seiten samt Anmerkungen und Informationen von den Herausgebern der französischen Ausgabe Pierre Sauvanet und Patrick Andrivet zum Text und Kontext.
Das Buch macht deutlich, dass da ein Rest Unbekümmertheit in diesen Frauen war, obwohl sie so viel gelitten hatten. Diese Unbekümmertheit kam in der Flucht zum Ausdruck, auch in ihrem Humor in Situationen, die man nicht gerade lustig findet. Sie waren ständig in der Angst, wieder gefangen genommen zu werden und zum Todesmarsch zurückgebracht oder gleich erschossen zu werden.

Wo haben sich die neun Frauen kennen gelernt?
Sie waren alle im KZ Ravensbrück. Sie waren alle in der Résistance, kamen also aus dem Widerstand, sechs Französinnen, zwei Holländerinnen und eine Spanierin. Suzanne Maudet war beispielsweise in der Jugendherbergs-Bewegung aktiv. Die Ajistes, so hießen die Aktivist*innen, haben viele junge Menschen, die im Service de travail obligatoire, ein Arbeitsdienst für junge Französinnen und Franzosen, der zwischen dem NS und dem Vichy Regime ausgemacht worden war, auf Heimaturlaub in die Résistence verschwinden lassen.

Im Französischen lautet der Titel des Buches „Neuf filles jeunes qui ne voulaient pas mourir“ - Neun junge Frauen die nicht sterben wollten.
Der französische Verlag hatte diesen Titel gewählt. Als Suzanne Maudet die Geschichte aufschrieb, 1945, hatte sie den Titel "Ohne Hass, aber kein Vergessen" vorgesehen.
Das war eine Botschaft an die Welt, die immer noch und immer wieder gilt. Und trotzdem sind gerade die vielen jungen Frauen, die in der Résistence oder in Italien in der Resistenza, oder anderswo im Widerstand waren, vergessen worden. Erst Jahrzehnte später, begann eine neue Generation nach ihren Geschichten zu fragen. Letztlich eine positive und gleichzeitig kämpferische Botschaft: es ist kein Hass in uns, aber diese Geschichte darf nicht vergessen werden. Kein Vergessen! Aber nach dem Krieg wollte niemand mehr was „vom Krieg“ wissen, von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht im Land der Täter*innen, aber auch nicht im siegreichen Frankreich.

Konntest Du noch jemanden aus Suzanne Maudet‘s Umkreis kennenlernen?
Ich bin im Briefwechsel mit Pierre Sauvanet, dem Neffen der Autorin. Er ist Professor für Ästhetik und Philosophie an der Universität Bordeaux. Ich habe erfahren, dass er 1994 den Text seiner Tante sozusagen ausgegraben hat. Er hat den Text abgestippt und ihn mit seiner Tante besprochen. Erst 10 Jahre später ist er dann als Buch erschienen.

Das war aber ein langer Weg. In welchem Verlag ist der Text erschienen?
Ja, erstaunlich, er ist in dem kleinen Pariser Lyrik-Verlag Arléa erschienen. Ich denke die Geschichten der Vergangenheit brauchen die Zufälle, um den Weg in die Öffentlichkeit zu finden, wie bei diesem Buch von Suzanne Maudet, die es als kollektiven, solidarischen Akt für ihre „Mitwegläuferinnen“ und als Fanal geschrieben hat: keck und optimistisch, gleichzeitig scheinen sehr wohl die grausamen Erlebnisse der Frauen durch. Die Todesmärsche waren das letzte grausame Kapitel der NS Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Was hat das Buch mit Dir gemacht?
Was das mit mir gemacht hat? Einen enormen Wissensschub bei der Recherche zur Übersetzung habe ich verspürt und bewegt hat es mich, tut es noch. Solche Übersetzungen geben einem Randinformationen, von denen du vorher nichts gewusst oder geahnt hast. Man übersetzt ja kein Buch ‘rauf und ‘runter. Wenn du einen Satz liest, in dem steht: das ist unser Marche à l'Étoile, musst du dich fragen, was ist gemeint?
Zwanzig Jahre Basis Buchhandlung kommen einem dabei zugute. Mir fiel ein, wo ich das gelesen hatte: Marche à l'Étoile - der Weg in den Tod unter dem gelben Stern. Ich hatte Bücher aus der Résistance gelesen, unter anderem von dem Schriftsteller Vercors (Jean Bruller) „Das Schweigen des Meeres“. Der Schriftsteller Said, der leider im Frühjahr gestorben ist, hatte mir das Buch ans Herz gelegt. Und ich erinnerte mich daran, dass der Marsch zu den Sternen, wörtlich übersetzt, Vercors zweiter Roman war - eine Abrechnung mit dem Vichy Regime. Rund um Maudets Buch habe ich auch viel recherchiert und mir die Dimension der Todesmärsche ist mir dadurch auch nochmal vor Augen geführt worden.

Was wäre die Botschaft des Buches?
Solidarität zum Beispiel. Die Botschaft des Buches ist auf jeden Fall: wir junge Frauen haben uns unser Leben zurückgeholt in diesen acht Tagen.
Die Traumatisierung der Menschen, all derer, die diese Konzentrationslager-Erfahrungen haben, hat sich später gezeigt.
Ich kenne Situationen des Zusammenhaltens – bitte, ich möchte das nicht mit Suzanne Maudet und den Frauen damals vergleichen -, aber das Zusammenhalten ist eine wichtige Form, um davonzukommen. Das Zusammenhalten ist der rote Faden, der sich durch das Buch zieht: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg - geht nur zusammen.
Man kann dieses Buch so lesen, dass man immer eine Chance haben kann, wenn man sich zusammenschließt. Insofern sind die Mitteilungen dieser jungen Frauen sehr modern. Das ist ein Buch für die jüngere Generation, und ich meine auch, es muss in die Schulen.

Ingrid, hoffentlich entdeckst Du weitere verborgene Texte, die in ihrer Muttersprache kaum Beachtung gefunden haben und unterschätzt wurden. Mach sie für uns auf Deutsch lesbar.
Vielen Dank für das Gespräch.


P.S.
wenn Sie weiteres über die neun Frauen erfahren möchten, sind die akribisch geführten Lagerkarten im Online Archiv ERA zu finden. Archivhttps:
//archiv.labournet.de/diskussion/geschichte/faschismus.html
&
https://arolsen-archives.org/?gclid=EAIaIQobChMI_LmK_YfK8wIVGqd3Ch185wLGEAAYASAAEgK-sfD_BwE


©Steffi.M.Black 2021(Text)
©Anna Sherbany 2021(Bild)